„Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam zu ihm; er sah ihn und hatte Mitleid.“ (Lukas 10,33)
Unterwegs in den Straßenbahnen der großen Städte in Europa scheinen alle nur auf ihr Smartphone zu starren. Sie sind virtuell mit vielen Menschen in Kontakt, aber in der realen Welt finden kaum echte Begegnungen statt. Haben wir es verlernt, einander wahrzunehmen? Das Evangelium will uns daran erinnern, dass Gott „alles neu machen“[1] kann.
Als ein Gesetzeslehrer Jesus fragte, was er tun müsse, um das ewige Leben zu erlangen[2], antwortete Jesus mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Darin wird berichtet, dass ein Mann von Räubern überfallen und halb erschlagen am Straßenrand liegen gelassen wurde. Ein Priester und ein Levit kamen vorbei; sie sahen ihn, aber sie gingen weiter.
„Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam zu ihm; er sah ihn und hatte Mitleid.“
Das Gebot der Liebe zum Nächsten war dem Volk Israel nicht fremd, auch der Gesetzeslehrer kannte es.[3] Die Samariter aber waren Fremde, sie galten als abtrünnig und feindlich. Dieser Fremde nun wurde im Gleichnis zum Vorbild: Er sah den Mann, der überfallen worden war, und hatte Mitleid mit ihm. Er unterbrach seine Reise und kümmerte sich um den Verletzten.
Jesus weiß, dass alle Menschen Schwächen und Fehler haben. Er ist auf die Erde gekommen, um mit der Barmherzigkeit und Vergebung Gottes die Herzen der Menschen zu heilen, damit sie fähig werden, einander nahe zu sein und das Leben zu teilen.
„Wenn wir lernen wollen, barmherzig zu sein, wie es der Vater ist, sollten wir also auf Jesus schauen. In ihm zeigt sich die ganze Liebe des Vaters. ... Die Liebe findet ihren höchsten Ausdruck in der Barmherzigkeit. Sie gibt allem anderen Sinn. ... Die Barmherzigkeit hilft uns, die Menschen immer wieder mit neuen Augen zu sehen: in der Familie, in der Schule, bei der Arbeit. Sie tilgt die Erinnerung an ihre Schwächen und Fehler. Sie macht es möglich, nicht zu verurteilen, sondern das Unrecht zu verzeihen, das wir erlitten haben, es sogar zu vergessen.“[4]
„Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam zu ihm; er sah ihn und hatte Mitleid.“
Am Ende des Gleichnisses steht eine klare Aufforderung: „Geh und handle du genauso!“[5] Das sagt Jesus auch uns und jedem Menschen, der ihm folgen will: Erweise dich als Nächster, hab Mut, die Initiative zu ergreifen und auch die Wunden der Menschen zu sehen, die dir begegnen.
Um die Nähe im Sinn des Evangeliums zu leben, können wir Jesus darum bitten, unsere Blindheit, die Vorurteile und die Gleichgültigkeit zu heilen, die uns nur auf uns selbst schauen lassen. Lernen wir vom Samariter, was Mitgefühl bedeutet, und seien wir wie er bereit, den ersten Schritt auf die anderen zuzumachen, uns Zeit zu nehmen, vorurteilsfrei zuzuhören und das Leid zu teilen.
Dieses Wort ist ein Schlüssel, um einen christlich geprägten Humanismus zu leben. Es macht uns unser gemeinsames Menschsein bewusst, in dem sich das Bild Gottes widerspiegelt, und lehrt uns, Nähe auch jenseits kultureller Unterschiede zu leben. So können sich die Grenzen des „Wir“ auf den Horizont des „Alle“ ausdehnen, und wir können neu entdecken, wie Zusammenleben auch mit uns zunächst Fremden gelingen kann.
Letizia Magri und Team
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[1] Vgl. Offenbarung 21,5
[2] Vgl. Lukas, 10,25-37
[3] Deuteronomium 6,5; Levitikus 19,18
[4] Chiara Lubich, „Wort des Lebens“, Juni 2002
[5] Lukas 10,37
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© Alle Rechte an der deutschen Übersetzung beim Verlag NEUE STADT, München
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