Abhängigkeit ist eine Krankheit, nicht einfach nur Folge von Willensschwäche. Und es gibt sie nicht nur weit weg von uns.
Kann es sein, dass wir es uns ein wenig zu leicht machen? Abhängigkeit – die gibt es natürlich und sie ist sehr bedauerlich; aber betroffen davon sind andere. Das Problem existiert, ist aber weit weg von uns.
Die nackten Zahlen legen etwas anderes nahe: In Deutschland, so das Gesundheitsministerium auf seiner Website, rauchen 11,6 Millionen Menschen, 1,6 Millionen sind alkoholabhängig. Man geht davon aus, dass bei 2,9 Millionen Menschen ein heikler Medikamentenkonsum vorliegt. Rund 1,3 Millionen Menschen weisen einen problematischen Konsum von Cannabis und illegalen Drogen auf. Etwa 1,3 Millionen Menschen sind spielsüchtig. Bei 8,4 Prozent der 12- bis 17-Jährigen und bei 5,5 Prozent der 18- bis 25-Jährigen schließlich kann von einer internetbezogenen Störung ausgegangen werden.
Suchterkrankungen sind alles andere als ein Randphänomen. Wir können ziemlich sicher sein, dass es in unserer nahen Umgebung Menschen gibt, die entweder selbst abhängig oder mitbetroffen sind, weil sie Partner, Eltern oder Kinder von Abhängigen sind.
Unsere Gesellschaft ist beim Thema Abhängigkeit von einer zweifelhaften Doppelmoral gekennzeichnet. Legale Drogen, wie Alkohol und Nikotin, werden anders, positiver bewertet als illegale Drogen – Heroin und Kokain etwa. Dabei ist Nikotin für jährlich acht Millionen Todesfälle weltweit verantwortlich, Alkohol für knapp drei Millionen. An illegalen Drogen und damit zusammenhängenden Krankheiten sterben jährlich etwa 600 000 Menschen.
Hinter diesen Zahlen verbergen sich unzählige Schicksale. Abhängigkeit ist eine Krankheit und nicht einfach nur Willensschwäche. Sie wirkt sich negativ auf den Körper, die Psyche und die soziale Einbindung aus. Außerdem verursacht sie erhebliche Probleme auch für das Umfeld der Betroffenen. Die meisten Menschen erleben eine große Hilflosigkeit im Umgang mit Abhängigen: Wie lassen sich Respekt vor der Würde des betroffenen Menschen verbinden mit der gebotenen Klarheit und dem notwendigen Selbstschutz? Wie kann es gelingen, den einzelnen Menschen zu sehen, der sich schämt, weil er zu jemandem geworden ist, der er nie sein wollte; und gleichzeitig dazu beizutragen, dass er erkennen kann: „Ich allein bin für mein Leben verantwortlich“?
Selbsthilfegruppen leisten hier eine Arbeit von unschätzbarem Wert. Sie bieten Abhängigen wie auch ihren Angehörigen geschützte Räume, in denen sie gesehen werden, sprechen und ihre Ohnmacht ausdrücken können, ohne verurteilt oder bedrängt zu werden.
Zum Schluss möchte ich Sie auf eine Aussage unseres Interviewpartners Rudolf Klein aufmerksam machen: „Es mag merkwürdig klingen: Aber die meisten Suchtkranken sind abhängig geworden, weil sie dem Ideal einer uneingeschränkten Unabhängigkeit gefolgt sind“ (Seiten 19-22). Kein Mensch ist unabhängig von den äußeren Umständen, von anderen Menschen und den eigenen Gefühlen. Kein Mensch kann immer funktionieren, jederzeit mit kühler Vernunft und klarem Bewusstsein handeln. Menschen haben ein berechtigtes Verlangen nach Unbeschwertheit, nach Ausgelassenheit, ja nach Rausch. Wenn wir von einer „rauschenden Party“ sprechen oder davon, dass wir „ganz berauscht“ von einem Erlebnis oder einer Begegnung sind, dann meinen wir ja etwas Schönes.
Vielleicht können etwas weniger Drang nach Perfektion, etwas weniger Erwartungen an uns selbst und aneinander sowie etwas mehr gemeinsam erlebte Leichtigkeit auch ein Beitrag sein, dass wir und andere „rauschhafte Momente“ ganz ohne Suchtmittel erleben können.
Dies ist ein gekürzter Beitrag von Peter Forst aus der Zeitschrift NEUE STADT, die sich in ihrer September/Oktober-Ausgabe mit dem Thema Abhängigkeit beschäftigt. Möchten Sie auch die weiteren Beiträge lesen? Dann können Sie HIER ein Probe-Heft anfordern oder das Magazin NEUE STADT abonnieren.