120 Personen aus rund 20 Bewegungen und Gemeinschaften fragten am 12. März in Baar nach dem Christsein in postkirchlicher Gesellschaft.
„Charisma und Vitalität sind die entscheidenden Kriterien für ‚Kirche 3.0‘, nicht Grösse und Struktur.“ Mit diesen Worten fasste Nicole Grochowina ihre Vision einer Kirche im Aufbruch zusammen. Zunächst skizzierte die Historikerin und Ordensschwester der evangelischen Communität Christusbruderschaft Selbitz/Oberfranken die dramatische Situation der Kirche im aktuellen Kontext. Nicole Grochowina erinnerte an die Pandemie, die kirchliches Leben stark eingeschränkt hat. „Doch sind gleichzeitig neue Möglichkeiten ins Blickfeld geraten, nämlich, dass auch digitale Räume Verkündigungsräume sein können, in denen es sich gut beten, segnen, hoffen und hören lässt". Weiter wies die Referentin auf den grossen Vertrauensverlust hin, den die Kirche hart treffe angesichts des gigantischen Ausmasses geistlichen und sexuellen Missbrauchs, „wie er uns heute unverfälscht vor Augen steht“. Viele Menschen fragten sich, „warum sie noch in diesem Verein bleiben sollen und treten scharenweise aus den beiden grossen Kirchen aus“.
Ein Hoffnungszeichen sei der Synodale Weg der katholischen Kirche: „Wird es gelingen, neu über Macht und Amt nachzudenken und entsprechend lebensdienliche Entscheidungen zu fällen? Wird es gelingen, den Frauen den Platz in der Kirche einzuräumen, den sie heutzutage nicht mehr erbitten müssten?“ Nicole Grochowinas Hoffnung verbindet sich mit einem realistischen Blick auf die Kirche: „Staunen über erste Entscheidungen ist gross und zugleich von der bangen Frage begleitet, ob diese Entscheidungen überhaupt Bestand haben werden, nachdem schon das gemeinsame Abendmahl in konfessionsverbindenden Familien nicht einmal aus seelsorgerlichen Gründen gestattet wird.“
Der aktuelle Krieg im Herzen Europas lasse weite Teile der Welt zusammenrücken und mit einer Stimme sprechen und handeln: „Wir erleben in diesen Tagen, dass wir zurückgeworfen sind auf das Gebet, auf unsere ureigene Berufung als Menschen, die glauben, lieben, hoffen. Die Kirche 3.0 wird zuallererst eine betende und zugleich diakonisch starke Kirche sein.“ Es handle sich um einen „Aufbruch nach innen – und nach unten, zu einer Kirche mit Dellen und Beulen, die sich ihrer Schwachheit und Wunden nicht schämt, sondern daraus ihre Angewiesenheit auf den unverfügbaren Dreieinigen Gott ableitet; ein Aufbruch also zu einer demütigen Kirche, die erkennen lässt, dass sie gerade aus ihren Wunden lebt und damit den Nimbus der Schwäche überwindet“. Auch der auferstandene Christus habe sich den Jüngern mit seinen Wunden gezeigt.
In einer sich rapide verändernden Welt mit ihren ganz grundsätzlichen Anfragen an den Glauben liege der Schlüssel im Gebet, im Erfahren des „Lebensgesprächs mit Gott“, das jedem Einzelnen anvertraut sei. „Die persönliche und gemeinschaftliche Gebets- und Glaubenserfahrung hat grosse Bedeutung. Es geht darum, dass sich im Gebet eine existentielle ‚Anverwandlung‘ des Wortes Gottes vollzieht, die dann in die lebensdienliche Tat führt.
„‘Kirche 1.0‘ entstand am ersten Pfingstfest; die Reformation war sozusagen ein ‚Update‘, das zur Kirche 2.0‘ führte. „Kirche 3.0 ist neu gerufen, ‚un-nüchtern, mit ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller Kraft die Liebe Gottes in die Welt zu tragen und zu entfalten“, sagte Nicole Grochowina. Ihr hoffnungsfrohes Referat, entstanden auch aufgrund von Impulsen aus der Vorbereitungsgruppe, besonders junger Leute mit ihren Erfahrungen und ihrer Sicht christlichen Lebens in postkirchlicher Gesellschaft, begeisterte die Herzen der Zuhörenden, die sich mit Applaus bedankten.
In Austauschrunden, Workshops und Begegnungen konnten die Teilnehmenden ihre Fragen, Erfahrungen und Reflexionen einbringen. Die Atmosphäre war geprägt von Freude, Offenheit und gegenseitiger Achtung. In einer liturgischen Feier, im Gebet für Frieden in der Ukraine, klang die Tagung aus.