Ein «Welttag der menschlichen Geschwisterlichkeit» soll jeweils am 4. Februar an das gemeinsame Dokument von Papst Franziskus und Gross-Imam Al Tayyeb erinnern. In Lausanne haben rund 70 Muslime und Christen dieses Dokument vertieft.
Am 4. Dezember überreichten in New York Kurienkardinal Ayuso Guixot und Gross-Imam Al-Azhar-Richter Muhammad Abd al-Salam eine Botschaft an Uno-Generalsekretär Antonio Guterres. Darin schlagen sie vor, den 4. Februar jährlich als weltweiten Gedenk- und Aktionstag zu begehen. An dem Datum hatten Papst Franziskus und der Kairoer Gross-Imam Ahmad Al-Tayyeb von Al-Azhar dieses Jahr in Abu Dhabi ein «Dokument zur menschlichen Geschwisterlichkeit» unterzeichnet.
Rund einen Monat vorher, am 3. November, vertiefte die Gruppe "Muslime und Christen auf dem Weg" genau dieses Dokument. Rund 70 Personen trafen sich im „Centre culturel des musulmans“ in Lausanne. Zum Thema "Geschwisterlichkeit, Utopie oder Dringlichkeit?“ sprachen Adnane Mokrani, Professor für Islamwissenschaft an der Gregorianischen Universität in Rom, und Giovanna Porrino, Professorin für Biblische Theologie an der Sophia Universität der Fokolar-Bewegung in Loppiano bei Florenz.
Respekt, Dialog und Gewaltverzicht
Für Adnane Mokrani stellt das Dokument über die "Menschliche Geschwisterlichkeit" von Papst und dem sunnitischen Gross-Imam „einen neuen Horizont für den islamisch-christlichen Dialog" dar. 800 Jahre nach dem Treffen zwischen dem Heiligen Franziskus und Sultan Al Kamil vermittelt diese Erklärung eine Botschaft des Friedens. Es ist das zweite Dokument, das von einem Papst und einer muslimischen religiösen Führungsautorität unterzeichnet wurde, und damit eine "absolute Neuheit". Es ist das Ergebnis eines langen, freundschaftlichen und ehrlichen Austausches.
Gemäss diesem Dokument sind der Islam und das Christentum nicht zwei gegensätzliche oder rivalisierende Religionen, sondern sie haben eine solide theologische und ethische Grundlage, die den Dialog, die Solidarität und eine gemeinsame Mission im Dienste der Menschheit ermöglicht.
Das Grundprinzip dieses Dokumentes findet sich im ersten Satz des Vorwortes: "Der Glaube führt den Gläubigen dazu, im anderen einen Bruder zu sehen, den man unterstützen und lieben soll". Das bedeutet, dass der Mangel an Liebe und Solidarität den Glauben verletzt.
So ist für Mokrani "der Muslim, der den Christen hasst, weniger Muslim, so wie der Christ, der den Muslim hasst, weniger Christ". Man kann nicht an Gott glauben, ohne an die Würde des Menschen zu glauben. Der Dialog zwischen Christen und Muslimen ist möglich, ebenso wie eine gemeinsame interreligiöse Mission.
Das Dokument verurteilt entschieden die religiöse Legitimation von Gewalt. Diese ist eine Abweichung von den religiösen Lehren. Die Religion muss für den Frieden erziehen. Freiheit und Vielfalt sind göttliche Gaben. "Wenn Muslime und Christen gemeinsam die Gewissensfreiheit verteidigen, verleiht dies eine große Glaubwürdigkeit", erklärte Mokrani. Er ist der Meinung, dass wenn der Koran sagt, dass die Gläubigen Brüder sind, sich dies nicht nur auf Muslime bezieht, sondern auf alle Gläubigen. "Wir brauchen eine neue Theologie der Religionen. Wie kann ein Muslim das Christentum mit Offenheit verstehen (und umgekehrt)? Das ist die Herausforderung. Wir haben die Pflicht, eine Theologie zu entwickeln, die Ausdruck unserer Realität ist", schließt er.
Vom Scheitern zur versöhnten Gewisterlichkeit
Giovanna Porrrino führt die Versammlung zu den "biblischen Quellen der Geschwisterlichkeit". Wobei dieser Begriff in der Bibel nicht vorkommt – jedoch Brüder und Schwestern mit ihren erfolgreichen oder gescheiterten Geschichten. Bis zum Brudermord bei Kain und Abel, oder der Geschichte von List, Neid und Gier wie bei Jakob und Esau.
Das Buch der Genesis, das mit dem Scheitern der Geschwisterlichkeit beginnt, endet mit der versöhnten Geschwisterlichkeit von Josef mit seinen Brüdern, oder der liebevoll gelebten Geschwisterlichkeit zwischen Moses, Myriam und Aaron.
Die Thora erweitert den Begriff des Bruders auf die ganze Gemeinschaft, er ist nicht auf das Blut beschränkt (Deuteronomium 15).
Für Jesus werden wir Brüder und Schwestern, indem wir den Willen Gottes tun, der ein Wille des Friedens ist. Für ihn ist das Fundament der Geschwisterlichkeit Gott, der Vater so vieler Kinder.
Jesus besteht auf Versöhnung, und er erweitert die Geschwisterlichkeit auf die Kleinsten.
In den Evangelien nennt Jesus seine Jünger erst nach der Auferstehung "meine Brüder und Schwestern". "Von diesem Moment an ist die Geschwisterlichkeit auch Gegenwart des Auferstandenen in der Geschichte. Sie ist ein Geschenk Jesus an die Jünger und an uns alle", schloss die Referentin.
Mit Geduld und Liebe
Ein Reigen von Erfahrungen gelebter Geschwisterlichkeit folgte. Vahid Khoshideh, Direktor des Ahl-el-Bayt Zentrums in Genf, unterstrich die Wichtigkeit des Dialogs: "Er war der Wendepunkt in meinem Leben. Ich habe dann gelernt, nicht mehr "ich glaube", sondern "ich denke" zu sagen. Dies ermöglicht ein besseres Verständnis des anderen und schließt die Tür zum Dialog nicht aus“.
Giorgio Antonazzi aus Italien lebte 21 Jahre in Algerien, wo seine muslimischen Freunde mit der Zeit tiefer verstehen wollten, was die Fokolare bewegt, sich ganz Gott zur Verfügung zu stellen. "Wir haben dann die vereinigende Gegenwart Gottes erlebt, die uns alle zu einer einzigen Familie gemacht hat", sagt Antonazzi. Später wurden viele Muslime zu den Hauptanimatoren von allem, was unter dem Namen Fokolar-Bewegung in Algerien getan wird, weil sie sich als vollständige Mitglieder dieser Familie fühlen.
Catherine Riedlinger von der Fokolar-Bewegung in Genf erzählte vom Fest der Völker mit 400 Personen, Flüchtlinge und Einheimische.
Die Familie von Charbel Fakhri kommt aus dem Libanon und gehört zur christlichen maronitischen Kirche. In seiner Heimat erlebte er den "Krieg der Religionen". Es dauerte viele Jahre, bis er durch Erkenntnisse und Prozesse der geistigen Reifung davon überzeugt war, dass dieser "Krieg der Religionen" nichts mit Religion zu tun hatte.
Nach dem Couscous bildeten sich am Nachmittag sechs Austauschgruppen, in denen sich jeder ausdrücken konnte. Ein syrischer Muslim sagte: "In Syrien - vor dem Krieg - wollten wir diese Geschwisterlichkeit leben, und es schien möglich. Aber nach so viel Leid war ich mir sicher, dass dies nie mehr möglich wird. Heute morgen habe ich gespürt, dass die Vielfalt der Völker und Religionen ein grosses Geschenk ist. Hier erlebe ich die Geschwisterlichkeit und in wenigen Minuten unter euch hat sich mein Herz verwandelt und ist mit Liebe und Frieden gefüllt worden.“
Autor: Martin Hoegger, (Übersetzung: Guy Mayer)