Politik und Geschwisterlichkeit – unmöglich?
Das Stichwort Politik weckt aktuell eher negative Gefühle: Kriege, Machtgehabe, Autoritarismus... doch es gibt sie noch, die Menschen, die Politik und Geschwisterlichkeit zusammenbringen wollen.
Informiert und kompetent in der Politik mitbestimmen, ist nicht leicht. Drei bis viermal jährlich gibt es in der Schweiz Eidgenössischen Abstimmungen, dazu kommen kantonale und kommunale Abstimmungen. Die Vorlagen werden immer komplexer. Seit 2016 stellen darum Liz Fischli Giesser und Diego Bigger aus Bern zu den gesamtschweizerischen Abstimmungen Informationen zusammen, die helfen, sich zu orientieren. «Wir geben keine Abstimmungs-Empfehlungen», betont Liz Fischli Giesser. «Wir wollen den Leuten Grundlagenwissen geben, damit sie das Für und Wider abschätzen und entscheiden können.» Die Juristin ist ehemaliges Parlamentsmitglied der Gemeinde Köniz bei Bern und ist seit jeher politisch und auch in der Fokolar-Bewegung aktiv.
Begonnen hatte das Engagement in Bern mit einem Diskussionsabend mit Fachleuten zu den Pro- und Contra-Positionen, zur damaligen Vorlage einer Asylgesetzrevision, später zur Energiestrategie des Bundes. Gleichzeitig fanden auch in Genf und im Wallis von der Westschweizer Gruppe «Politik und Geschwisterlichkeit» Diskussions- und Informations-Anlässe zu Abstimmungsvorlagen statt, sowie Treffen zwischen Poitikerinnen, Politikern und Interessierten.
In der Corona-Zeit begann die Berner Gruppe die Infos kompakt per Mail zu versenden. «Diese digitale Form der Information hat viel Anklang gefunden und erreicht mehr Leute als eine Veranstaltung.» Seit 2022 wird nun regelmässig vor einer eidgenössischen Abstimmung ein Newsletter verschickt, mit einem einleitenden Text sowie Pro- und Contra-Unterlagen. «Wir finden es wichtig, dass wir unser demokratisches Recht, abstimmen und wählen zu können, wahrnehmen» sagt Liz Fischli. «Mit unserer Stimme können wir die Gesellschaft mitgestalten und etwas beitragen zu mehr Geschwisterlichkeit mit den Mitmenschen und mit unserer Umwelt.»
Wer den Abstimmungs-Newsletter bekommen möchte, kann ihn hier bestellen: https://mailchi.mp/fokolar.ch/abstimmungsinfos
Regelmässig findet während der Sessionen des Eidgenössischen Parlaments jeweils am Mittwoch eine kurze Morgenbetrachtung statt, seit rund 40 Jahren. Die Idee hatte damals Nationalrat Otto Zwygart, der seinen Freund, den reformierten Pfarrer Jörg Gutzwiller dazu mit ins Boot holte, und dieser wiederum fragte den Sprecher der Schweizerischen Katholischen Bischofskonferenz, Hans-Peter Röthlin an, ein Mitglied der Fokolar-Bewegung. Seither wird die «Besinnung unter der Bundeskuppel» in wechselnden ökumenischen Teams gehalten, bis heute mit Beteiligung der Fokolar-Bewegung, aktuell in der Person von Michelle Grandjean Böhm. «Es ist ein kurzer Moment mit ein paar Parlamentarierinnen und Parlamentariern. Es ist wertvoll, an diesem Ort Gottes Gegenwart herbeizurufen und um gute politische Entscheidungen zu beten», sagt sie.
Gut 600 Kilometer nördlich von Bern, in Solingen im Nordwesten Deutschlands, geht es im lokalen „Forum Politik und Geschwisterlichkeit“ jenseits von Parteipolitik um politisches Engagement vor Ort. Das bedeutet aktive Mitarbeit mehrerer Forums-Mitglieder als gewählte Politiker:innen in Stadt-, Kreis- und Gemeinderäten, aber nicht nur: «Wir verstehen Politik in einem ganz weiten Rahmen», sagt Brunhilde Hertwich, die zum Kernteam des Forums gehört. Basis sei der Gedanke Chiara Lubichs, Gründerin der Fokolar-Bewegung und 1996 Initiatorin des internationalen Forums für Politik und Geschwisterlichkeit, wonach Politik die Höchstform der Liebe sei – denn sie regelt das Zusammenleben der Menschen verschiedenster Prägungen. Das Forum von Solingen bietet einen Raum für Begegnung, Dialog und der Aktion, parteiübergreifend und parteiiunabhängig, für Bürgerinnen, politisch Engagierte, Kommunalpolitiker und Berufspolitikerinnen. Bei einer Tour nach Brüssel lernt die Gruppe z.B. die politische Arbeitsweise der Europäischen Union kennen; oder zum Thema «Migration, Einreisestopp – Zurückweisung – Abschiebung…???» veranstaltet das Forum einen Infoabend mit dem Beigeordneten der Stadt Solingen für Recht, Ordnung und Soziales. Beziehungspflege mit politisch Aktiven ist ebenso wichtig: «Wir suchen das Gespräch mit Politikern, signalisieren ihnen unsere Nähe, den Wunsch zum Dialog», so Hertwich. Das ist keine Einbahnstraße, denn natürlich gehört dazu auch, die Erfahrungen aus Solingen an die Politiker weiterzugeben.
Zurück in die Schweiz: Seit 2021 trifft sich im Wallis wieder regelmässig eine Gruppe von politisch Aktiven. Sie treffen sich einmal im Monat und haben u.a. einen Friedensappell an ihre Parlaments-Kolleginnen und -Kollegen gerichtet und im Februar 2025 in Martigny eine Tagung mit 40 Teilnehmenden durchgeführt, wo sie gemeinsam die Vision einer geschwisterlichen Politik reflektiert und die Aktion «Together for a new Africa» des internationalen Forums Politik und Geschwisterlichkeit der Fokolar-Bewegung vorgestellt haben.
Begonnen hatte das politische Engagement der Fokolar-Bewegung Schweiz im November 2001 am Kongress «1000 Städte für Europa» in Innsbruck. Vier Schweizer Gemeindepräsidenten lernten dort Chiara Lubich kennen. Durch sie entstand das Schweizerische «Forum Politik und Geschwisterlichkeit» mit vielen Aktivitäten. So organisierten sie unter die Tagungen „Die Herausforderung einer authentischen Politik“ vom 22. März 03 in Martigny mit 250 Teilnehmenden und am 4. September 04 in Bern „Geschwisterlichkeit in der Politik – Utopie oder Notwendigkeit“ mit 450 Anwesenden.
«Ich träume davon, dass Parlamentarierinnen und Parlamentarier nicht mehr ihre persönlichen Interessen vertreten, sondern die jene der Bevölkerung, zum Wohle von möglichst vielen!», sagte Marie-Josée Reuse, Mitglied im Walliser Grossen Rat (Kantonsparlament) an der Tagung im Februar in Martigny. Sie ist überzeugt: auch wenn die Anstrengungen geschwisterlicher Politik wie ein Tropfen im Ozean wirken, so können diese trotzdem viel bewirken. Sie zitiert Jackline, eine junge Politikerin aus Kenia: «Unabhängig davon, vor welcher Herausforderung Sie stehen, sollten Sie sich bewusst sein, dass schon das Wenige, das Sie zu einer Lösung beitragen können, eine Welle unendlicher Inspiration auslöst, und genau das braucht die Welt im 21. Jahrhundert.»
Beatrix Ledergerber